Untersucht während der Corona-Pandemie
Die Sonne kitzelt warm im Nacken, es liegt ein zarter Duft von Schlehenblüten in der Luft und der Bach gluckst fröhlich vor sich hin, als hätte er sich gerade selbst einen Witz erzählt, den nur er versteht. Ein Osterspaziergang mit den liebsten Menschen, nämlich mit denen, mit denen man unter einem Dach lebt, in einem einsamen Tal, hat plötzlich einen anderen Wert. Mehr Wert als sonst.
Es ist eine Binsenweisheit, dass man die Dinge erst schätzen lernt, wenn sie einem abhanden gekommen sind – ein wichtiger Mensch, ein geliebtes Haustier oder auch nur ein Lieblings-T-Shirt. Und jetzt im Moment gehen uns ganz neue Dinge ab: unsere Freiheit, der selbstverständliche Kontakt zu anderen, und es sind bestimmte Grundrechte, von denen wir dachten, dass sie uns sicher sind. Wenn wir uns nicht mehr bewegen dürfen, wie wir wollen, wenn wir uns nicht mehr versammeln dürfen, wenn wir unsere Religion nicht mehr ausüben können wie gewohnt, dann fehlt plötzlich etwas. Und uns wird die Bedeutung klar, die all diese Freiheiten im Alltag haben.
Geistesgegenwart
Wert·schät·zung, die, Substantiv, feminin – laut Wörterbuch drückt Wertschätzung Anerkennung und eine hohe Einschätzung Sachen und Individuen gegenüber aus. Diese hohe Einschätzung der Dinge können wir uns immer dann bewusst machen, wenn diese Selbstverständlichkeiten fehlen. Und wir können dieses Gefühl hinüberretten in die Zeit, wenn alles wieder in normalen Bahnen läuft. Denn das wird es, wenn die Pandemie abebbt und mit ihr der Schrecken, dass auch in unser so geregeltes Leben Unvorhersehbares hineinbrechen kann. Aber auch dann können wir die Lebensmittel im Kühlschrank noch wertschätzen, die es zum Glück jeden Tag frisch im Laden zu kaufen gibt und die wir nicht mehr so leichtfertig verschwenden, wenn sie nicht mehr ganz tipptopp aussehen. Und wir können einen Abend mit Freunden, die wieder zu Besuch kommen dürfen, ganz neu genießen oder einen Konzertabend in einem Saal mit hunderten hüstelnder Besucher.
Dankbarkeit
Wertschätzung ist eng mit Dankbarkeit assoziiert. Um sie zu spüren, brauchen wir Aufmerksamkeit, Interesse und Respekt für die Welt um uns herum. „Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht.“ Das ist ein Zitat von Christian Morgenstern. Es geht also darum, wirklich wahrzunehmen.
Wertschätzung dessen, was wir haben, kann eine gute und stabile Basis dafür sein, sich für nachhaltige Lösungen zu entscheiden und sich für den Erhalt unserer Natur und unserer demokratischen Freiheit stark zu machen. Eine Pandemie ist vorübergehend. Wenn wir allerdings die Natur weiter zerstören, Ressourcen erschöpfen und das Klima anheizen, dann wird es eine noch viel größere Krise geben, die nicht mehr einfach wieder weggeht. Und der Wunsch, die Natur wertzuschätzen, wird dann ins Leere laufen.
Ein Weckruf für eine viel größere Bedrohung
Die Corona-Pandemie ist ein Weckruf. Auch wenn jetzt gerade Rezessionsängste und die Noten der verschobenen Abschlussprüfungen in den Schulen naheliegender scheinen, so ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt, um sich über den Wert einer intakten Natur und eines lebensfreundlichen Klimas klar zu werden. Ich habe die Entschleunigung genutzt, um ein E-Auto zu bestellen. Das wird vermutlich keinen großen Einfluss auf die Rettung der Welt haben. Aber es kann mich jedes Mal beim Einsteigen auch nach der Krise daran erinnern, wie es sich anfühlt, wenn nichts mehr selbstverständlich ist.